Im vorherigen Beitrag haben wir Eva Maria Jäger, die Mit-Autorin des Buches „Spirituelles Embodiment„, vorgestellt. Sie hat „Embodied Prayers“ entwickelt. Hier setzen wir das Interview fort.
Was heißt für Dich Spiritualität?
Spiritualität hat für mich mit „GANZ-werden“ zu tun. Wo das Herz „ganz“ wird, wo ich Gott mit ganzem Herzen suche, wird er sich von mir finden lassen, heißt es in Jeremia 29,13. Ich habe so viel über dieses Wort nachgedacht und es erscheint mir fast, als sei der Begriff „ganzes Herz“ ein Synonym für Gottes Gegenwart. Ich glaube, man kann es auch Implikation nennen, wenn sich die beiden Aspekte gegenseitig bedingen: Wo ich ihn finde, werde ich ganz – wo ich ganz werde, finde ich ihn. Wenn Gott ins Spiel kommt und Gast wird in meiner Herzenskammer, verwandelt sich das innere und äußere Miteinander. Aus einem bisherigen Uneins-Sein, einem Gegeneinander wächst etwas Neues, Heiles. In meiner Praxis und im Studium für „Integrative Beratung“ spielt „Integration“ die zentrale Rolle. Und das empfinde ich ebenso für Spiritualität.
Aber es geht nicht über blinde Abkürzungen. Der Integrations-Weg verläuft paradoxerweise zuerst über eine „Aus-Einandersetzung oder „Des-Identifikation“, d.h. das, was ich neu in mir einordnen möchte, womit ich bisher in mir oder in der Außenwelt meine liebe Not habe, gehört zuerst separiert, damit eine Außen-Schau und „Reflektion“ möglich wird. Das kann z.B. auch ganz konkret über Stuhlarbeit laufen, indem wir einen (oder mehrere) weitere Stühle hinstellen und einen Platzwechsel möglich machen. Oder hypnotherapeutisch über innere Vorstellungen von sicheren Orten als Ausgangspunkt, von dem aus man einen inneren Treffpunkt gestalten kann, an dem diese „Aus-Einandersetzung“ bewusst initiiert wird, sobald man sich stabil genug dafür fühlt.
Ganz offiziell wird das z.B. auch über Beratungsmethoden wie das innere Team, das Schulz von Thun entwickelt hat oder „Ego-State“-Therapie aus der Hypnotherapie vermittelt. In meiner Begeisterung über diesen Therapie-Ansatz habe ich vor Jahren im Anschluss an die Hypnotherapie-Ausbildung bei Kai Fritzsche in Berlin und Woltemade Hartman die Ausbildung zur Ego-State-Therapeutin gemacht. Ich kann mittlerweile nicht mehr anders arbeiten, weil es so viele, heilsame und vor allem auch spirituelle Möglichkeiten eröffnet: nicht der „ganze“ Mensch ist ein krank, verletzt oder eingeschränkt, sondern einzelne Aspekte bei ihm. Mit diesen Aspekten einen anderen Umgang zu üben, sie einzuladen, sie in ihrer Funktion verstehen zu lernen und ihnen auch die Würde und Anerkennung zu geben, die einem bei diesem Reflektieren bewusst wird – das ist für mich nicht nur Psychotherapie, sondern auch ein zutiefst spirituell förderlicher Ansatz. Ich bin begeistert von dieser Sichtweise und diesem Vorgehen.
In Offenbarung 3 gibt es das Wort von Jesus, der „vor der Tür steht und anklopft“. Das ist schon einmal eine wunderbare Ausgangs-Situation, in der ein Einzelner eingeladen ist, “Ja“ oder „Nein“, oder „Jetzt nicht“ zu sagen – also eine Form der Würdigung der Selfefficacy und freien Wahl. Diese freie Wahl spielt in jeder Art von Traumatherapie, in der Klienten oft auf einem Alltag kommen, in dem Missbrauch und Übergriffigkeiten an der Tagesordnung sind, eine besonders wichtige therapeutische Rolle.
Und wenn es passt – und Jesus kommt herein, lädt er in diesem Wort ein, dort zusammen „das Mahl zu feiern“. Als Metapher übertragen auf das innere Team bedeutet das, mit allen inneren Aspekten von mir Tischgemeinschaft haben. Da beginnt spirituelles Wachsen: In der inneren Wirklichkeit sitzen die vielen Aspekte meiner inneren Tischgemeinschaft nämlich nicht schon alle präsent am Tisch und warten auf das Mahl. Es sind viele auch „unter den Tisch gefallen“: Was wir vor uns, vor unserem Mitmenschen tun, machen wir auch im Umgang mit Gott, dass wir sicherheitshalber ein „Schaufenster-Programm“ vorführen. Spirituell reifen bedeutet für mich, jetzt die verloren gegangenen Anteile nach und nach ans Licht zu bringen. Das ist nicht so einfach, denn Verlorenes ist auch das, was ich selbst bei mir nicht auf den ersten Blick sehen kann, das sich meinem Bewusstsein entzieht, sonst wäre es ja ein „angesehener Anteil“. Diese Anteile können vom biographischen Entstehungsdatum her auch innere Kinder sein. Jeder Anteil kann ein anderes Alter, eine andere Aufgabe, andere Bedürfnisse haben.
Durch diesen Prozess kann Gottes Gegenwart viel punktgenauer in Kontakt mit den wirklich bedürftigen Seiten von mir kommen – und das meine ich mit Spiritualität. Das innere Wahrnehmen: Was ist bei mir denn ungesehen, verloren, möglicherweise sogar verachtet? ist der erste Schritt. Wenn dann die Erlaubnis gegeben ist, dass Anteile, die bisher unter dem Tisch waren, auftauchen dürfen und erfahren, dass sie nicht gleich wieder eine „auf den Deckel“ bekommen, ergibt sich oft schon erstaunlicherweise ein Perspektivenwechsel in der Bewertung dieser Anteile.
Spiritualität fördern, bedeutet für mich also in diesem Zusammenhang, meine innere Tischgemeinschaft immer vollständiger vor meinen und Gottes Augen einzuladen und teilnehmen zu lassen am täglichen Genährtwerden am „Tisch des HERRN“, wenn man das mit diesem Bild so sagen kann. Jeder Aspekt, der so dazukommt, bekommt dann Zeit, herauszufinden: Was kann ich, wofür bin ich da? Und was brauche ich?
Man könnte auch sagen: Heiligung und Erlösung geschieht durch den Tod Jesu am Kreuz und ist eine Entscheidung, die sich an einem Zeitpunkt festmachen lässt, während Heilung dieser spirituelle Prozess des Ganzwerdens ist, der sich nach und nach in einem Leben mit Jesus vertiefen und ausbreiten kann.
Wie verbindest Du Spiritualität und Körper?
Ein Weg, beides miteinander zu verbinden ist für mich in der Tat, Embodied Prayers zu machen. Es kann sein, dass ich es viele Tage nicht mache – und dann kommt eine Situation, in der ich merke: Oh, jetzt muss ich mich selbst wirklich besonders „nähren“ und in Verbindung bringen.
Das kann sein, dass ich vor einem öffentlichen Moment aufgeregt bin. Es kann auch auf privater Ebene in einer Konfliktsituation sein, wenn zwei Menschen im größeren Defizit zusammenkommen, findet man auch nicht gleich eine gemeinsame „Kurve“ heraus. Da tut es mir gut, einfach in den Garten zu gehen für 10 Minuten und ein solches Körpergebet zu machen.
Interessant dabei ist auch die Verbindung zwischen inneren Anteilen und Körper: Ego States sind unterschiedlich ansprechbar, manche davon sind eher intellektuell, manche eher körperlich erreichbar. Das hat auch mit dem Alter ihrer Entstehung zu tun. Rein entwicklungspsychologisch sind die Anteile aus der frühen Biographie nichtsprachlicher und „präverbaler“ Natur und das sind in dieser Phase so entscheidende, tiefgehende Muster, die mitbestimmen, ob wir uns „einlassen“ können oder „fallenlassen“ können – und die auch in der Beziehung zu Gott zum Tragen kommen.
Das Schöne ist, dass das nicht zementiert bleiben muss: Gerade über die Gottesbeziehung und Erfahrungen von Vertrauen, das sich gelohnt hat, können unsichere und ambivalente Bindungsmuster verändert werden und sichere Bindung entstehen. Im Fachjargon nennt man das: durch sensitive Beziehungserfahrungen, z.B. auch in der Seelsorge innere Arbeitsmodelle und Beziehungseinstellungen zu „reorganisieren“. Bei diesem spirituellen Wachstum spielt die körperliche Ebene die eigentliche Rolle.
Was würdest Du sagen, geschieht, wenn ich mit dem Körper bete? Kommt in den Embodied Prayers auch Focusing vor? Wie würdest Du die Verbindung von Focusing und Gebet sehen?
Was genau geschieht, wenn ich mit dem Körper bete, frage ich mich selbst. Da möchte ich noch genauer hinspüren – da wünsche ich mir selbst noch mehr „Focusing“.
Rein äußerlich ändern sich vermutlich verschiedene physiologische Parameter, z.B. reguliert sich der Muskeltonus: Bin ich zu unterspannt und müde (hypoton), richtet sich etwas in mir auf, bin ich überspannt (hyperton), löst sich etwas. Die Herzrate reguliert sich, Verdauungsprozesse und Stoffwechselprozesse können in die Gänge kommen. Ein weiteres, wunderbares, weil auch spirituelles Thema sind die Veränderungen in der Atmung.
Leider bin ich selbst keine Focusing-Therapeutin, auch wenn ich damals als junge Studentin so sehr berührt und begeistert war, als ich bei einem Workshop auf dem großen Therapiekongress in Hamburg Eugen Gendlin bei einem Vortrag und einer Fall-Demo erlebt habe – aus der ersten Reihe! Dieses behutsame Hin- und Hergehen zwischen Felt Sense und sprachlichen Annäherungen finde ich ein ganz wunderbares, heilsames Angebot! Das ist auch ein ganz persönlicher, bewusster Such-Prozess nach Kongruenz und Übereinstimmung, der offen ist und in jedem Fall und Augenblick zu anderen Entdeckungen führt.
Bei den Embodied Prayers gibt es zwei Vorgaben: sowohl der Bewegungsablauf als auch die Worte sind vorgegeben. Ich erlebe das als eine Art „Struktur“, in die ich mich hineinfallen lasse, Augenblicke, in denen ich auch das Reflektieren abschalte. Noch persönlicher wäre es, aus dem Augenblick heraus ein Körpergebet zu entwickeln. Aber die meisten meiner Klienten sind dafür zu unsicher, zu wenig „bei sich“ und brauchen erst einmal Formen, um sich selbst wieder näher zu kommen. Der Vorteil der Embodied Prayers ist, dass ich sie ihnen sozusagen „mitgeben“ kann, auch wenn sie alleine sind, während Focusing den Dialog braucht.1
Es ergeben sich auch Berührungspunkte zum Focusing, wenn ich die Embodied Prayers z.B. in meinem eigenen Tempo durchführe. Dann kann ich sie zum Beispiel sehr verlangsamen oder innehalten, sowohl in den Bewegungen als auch in den Worten – und dadurch wird ein tieferer Kontakt zu meinem Körper und den Gebetsworten möglich. An dieser Stelle findet ein Übergang statt, ich kann beginnen, Beziehung zum „Felt Sense“ aufzunehmen. Und dann öffnet sich auch dieses eher strukturierte Angebot für andere, persönlichere Ebenen, um immer mehr „da“ zu sein in Gottes Gegenwart.
Auf einer vertieften Ebene gibt es auch bei den Embodied Prayers eine Art Pendeln der Aufmerksamkeit zwischen dem Wort, das ich im Gebet ausspreche und der Körper-Selbstwahrnehmung. Wenn ich noch tiefer in dieses Pendeln einsteigen will, z.B. beim Wort „Gnade“ zum Ausbreiten der Arme kann es Sinn machen, den Text- und Bewegungsfluss zu verlangsamen, um mit dem Bewusstsein in den Worten anzukommen.
Vielen Dank für das Interview!
1 Focusing kann auch allein durchgeführt werden, aber im Dialog ist es einfacher.
Photo by Meiying Ng on Unsplash;
[…] im übernächsten Beitrag. Hier spricht Eva über Spiritualität und die Verbindung mit dem […]