„Eines der größten Missverständnisse im Bereich der Spiritualität ist, dass diese immer etwas mit Ruhe zu tun haben müsse. Weil sie aber nie ruhig sind, verschieben viele Menschen den Beginn ihres spirituellen Lebens auf den Sankt-Nimmerleins-Tag.“ Katharina Ceming*
Um Gott zu begegnen, tun wir oft so, als ob wir eine spirituelle Ebene erreicht haben müssen. Da sollen die Gedanken zur Ruhe gekommen und eine gewisse Andächtigkeit vorhanden sein. Weil diese Vorstellung aber nicht unseren gegenwärtigen Zustand beschreibt, werden wir mutlos und geben unsere spirituellen Übungen schnell wieder auf.
Die christliche Tradition versteht das anders: Nicht dort, wo wir sein wollen, sondern wo wir sind, begegnet uns Gott. Der Name Immanuel in der Weihnachtsgeschichte am Anfang des Matthäusevangeliums heißt „Gott mit uns“ – mitten im Trubel dieser Welt, im Stall zu Bethlehem, mitten in unserem unruhigen Herzen.
Wenn Gott dort zu finden ist, muss ich nicht gegen die Unruhe, die Dunkelheit, das Chaos meiner Gefühle oder was auch immer in mir tobt, kämpfen. Gott ist da und ich darf auch dort verweilen. Being with what is.
Vor 700 Jahren hat Meister Eckhart diese Haltung auf seine Art formuliert:
„Glaubst du, dass weil du … weder Andacht noch Ernst hast, du deshalb eben, weil du keine Andacht und keinen Ernst hast, auch Gott nicht hast, und ist dir das dann leid, so ist dies eben jetzt deine Andacht und dein Ernst.“*
Wer Focusing kennt, verfügt über eine Methodik, um genau diese Haltung einzuüben. Da höre ich nach innen und nehme wahr, was da ist, wie ich gerade bin. Wenn ich etwas Unruhe spüre, versuche ich nicht darüber hinwegzugehen, sondern ich leiste diesem Gefühl Gesellschaft. Verweilen bei dem, was da ist – im Glauben, dass etwas Tieferes, Annehmendes schon lange da ist und auf mich wartet.
*aus „Lass mal. Mit Meister Eckhart ins Hier und Jetzt“ von Katharina Ceming