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Das Leben und alles in Fülle

Im Focusing wende ich mich meinem Körper zu und begrüße in einer aufmerksamen, annehmenden, ahnungslosen, abwartenden,  absichtslosen Haltung das, was ich dort wahrnehme. Schon diese Haltung braucht ein wenig Übung, da sie sich von der üblichen Art und Weise, wie wir mit uns selbst umgehen, unterscheidet. Ich zumindest bin sehr häufig mit Ungeduld und inneren Bewertungen mir gegenüber konfrontiert, so dass sich dieser Freiraum im Alltag nicht von allein einstellt. Im Focusing nehme ich mir Zeit (abwartend) und wende mich mir zu (aufmerksam) und lasse beiseite, was ich schon meine zu wissen (ahnungslos) und bleibe wohlwollend und ohne etwas Bestimmtes erreichen zu wollen dabei (annehmend, absichtslos). So können sich Körperemfindungen zeigen, die mir zu einem Thema oder meiner jetzigen Situation etwas zu sagen haben. Meiner Erfahrung nach gibt es so ein tieferes Empfinden in mir, aber ich habe in der Regel keinen Zugang dazu. So gibt mir Focusing die Gelegenheit und auch den Weg zu diesen tieferen Schichten, die mir oft dann doch etwas Erstaunliches offenbaren. Und sehr häufig entsteht bereits eine körperliche Veränderung, wenn sich so ein Empfinden als ein Gefühl, ein Bild, ein Wort, eine Erinnerung richtig beschrieben fühlt. Dieses Aufatmen „Ja, so ist es“ löst sehr häufig schon eine Erleichterung aus, gespürt als eine körperliche Weite, ein Lösen oder Fließen. Das bedeutet nicht, dass das Gefühl oder das Unangenehme eines Problems damit bereits auf einer rationalen Ebene bearbeitet wäre. Sondern entscheidend ist, dass der Körper das Gefühl von „gesehen werden“ erlebt hat. Damit kommt eine Tiefe in jegliches Erleben hinein. Alle Gefühle können so in einer Intensität gespürt werden, ohne dass ich in sie hineinfalle oder völlig von ihnen bestimmt werde. Denn im Focusing gibt es diesen Abstand, der es mir ermöglicht, in Kontakt mit den Empfindungen zu sein, mich ihnen zuzuwenden oder zu nähern – so nah, wie es gerade gut ist, um sie wahrzunehmen, und wie eine gute Freundin daneben bleiben zu können .

Ich habe vor Kurzem in dem Freiraum-Podcast von Tony Hofmann eine Folge über „sogenannte schlechte Gefühle“ (#81) gehört. Er führt darin aus, dass der größte Teil unseres emotionalen Empfindens naturgemäß „negative“ oder „schlechte“ Gefühle ausmacht. So sind wir als Menschen gemacht. Tony spricht sich aus seiner eigenen Erfahrung dafür aus, alle Gefühle „mit Genuss“ zu fühlen. Und zwar in der von mir oben beschriebenen Art und Weise: nicht komplett hineinfallen, aber auch keine rationale Analyse (warum fühle ich jetzt genau das, was bedeutet das für mich usw.), sondern die Gefühle einfach zu fühlen!

Da machte es bei mir Klick und ich verstand eine neue Facette des Wortes von Jesus: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben und alles in Fülle haben sollen“ (Johannes 10,10). Früher habe ich darunter so eine konsumorientierte Fülle verstanden, einen voll gedeckten Tisch, einen Kleiderschrank mit schönen Sachen, erfüllte Wünsche anderer materieller Art. Oder auch: die Fülle an Freude, Zufriedenheit, Frohsinn, Leichtigkeit, Lachen – alles, wie auf einer großen, nicht endenden Party (wenn man Partys mag). Die Deutung von Tony zu der „Fülle der Gefühle“ hat mich die Worte Jesu ganz neu lesen und hören lassen: Jesus meint die Fülle des Lebens, ALLES, was mich ausmacht, was ich erlebe, was ich bin und was ich fühle, auch die schwierigen, schweren, unangenehmen Facetten. Jesus hat als Mensch gelebt und eben diese Fülle selbst gespürt und gelebt. Und sein Leben war wahrhaftig von sehr emotionalen und extremen Situationen geprägt, allerdings auch von Alltag, Beziehungen, Stille, Kontakt mit sehr unterschiedlichen Anteilen in sich und in anderen. All das ist das Leben, in Fülle!

Mit der Focusing-Haltung nähere ich mich der Fülle des Lebens ohne darin unterzugehen. Und Jesus hat es mir vorgemacht und mir zugesprochen.

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