Wie können wir wissen, was wahr ist? Und ist diese Kategorie überhaupt noch hilfreich in einer Zeit von Fakenews und Polarisierung?
Die Suche nach der Wahrheit ist so alt wie die Menschheit. Campbell Purton, ein englischer Psychotherapeut und Focusing-Lehrer, schreibt in einem Artikel über zwei Sichtweisen auf Wahrheit: Die eine ist eine traditionell wissenschaftliche Sicht, die sich auf Fakten beruft, mit der eine Wirklichkeit unabhängig von uns Menschen erforscht und beschrieben wird. Diese objektive Sichtweise hat sich nach der Aufklärung in der westlichen Welt stark durchgesetzt und bestimmt sehr häufig den gesellschaftlichen Diskurs. Dahinter steckt die Annahme, dass eine Wirklichkeit unabhängig von uns besteht, über deren Struktur und Aufbau wir Erkenntnisse gewinnen können, die mit objektiven Maßstäben bewertet werden können. Die andere Sichtweise wird relativistisch genannt und hat sich in der Postmoderne mit dem Konstruktivismus immer mehr verbreitet. Damit ist die Annahme verbunden, dass es keine Wirklichkeit unabhängig der menschlichen Wahrnehmung gibt, sondern alles in Zusammenhang mit der jeweiligen Kultur steht, mit der wir die Wirklichkeit deuten. In dieser Sichtweise gibt es keine absoluten, unabhängigen Richtlinien, die für alle gelten, sondern nur Konstruktionen, die relativ sind. Purton fasst es in seinem Artikel so zusammen:
Die Objektivisten liegen richtig, wenn sie sagen, dass es eine Wirklichkeit außerhalb von uns geben muss. Allerdings haben auch die Relativisten Recht, wenn sie behaupten, dass jede Wirklichkeit, über die wir sprechen können, auch konzeptionell kulturgebunden ist und damit nicht unabhängig von uns besteht.
Purton, 2013, S. 124
Ein Dilemma, das nicht lösbar erscheint. Purton bietet nun einen dritten Weg an, der jenseits der Konzepte liegt. Hier kommt Focusing ins Spiel. Sobald wir beginnen, das in Worte zu fassen, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, besteht die Gefahr, dass diese Worte zu einer fixierten Wahrheit werden. Aber Sprache ist immer kontextabhängig (so hat es schon Wittgenstein gesagt, auf den sich Gendlin, der Begründer von Focusing, bezieht). Das zeigt sich z.B. in der Sprache der verschiedenen Religionen. Wie die Menschen ihr spirituelles Erleben in Worte gefasst haben, stand und steht in Zusammenhang mit der Zeit, in der sie gelebt haben oder leben, in welchem örtlichen Umfeld sie sind, in welchem Volk sie aufgewachsen sind, von welcher Natur sie umgeben sind usw. Auch wenn sich Religionen über die Erde verteilt ausgebreitet haben, so bekommen sie doch eine neue Färbung, wenn sie in einer anderen Kultur gelebt und praktiziert werden. In diesem Sinne gibt es keine reine Wahrheit und doch gibt es eine Wirklichkeit, auf die sich Menschen in ihren spirituellen Erfahrungen beziehen. Diese Wirklichkeit liegt jenseits der Konzepte.
Purton wird hier bei der Verwendung der Begriffe sehr basal, minimalistisch, offen und spricht von dem „Etwas“ der dahinter liegenden Wahrheit. Diese dritte Möglichkeit ist eine Wahrheit jenseits der Worte, die im Erleben unmittelbar erfahrbar ist, er bezeichnet es als den mystischen Weg oder die Lehre der Mystik. Die Art und Weise, diese dahinterliegende Wirklichkeit wahrzunehmen, liegt in der Stille, im Lauschen, im Dabeibleiben mit dem, was in uns als Gesamtheit des Erlebens entsteht. In der körperlichen Wahrnehmung von all dem liegt das Erfahren der ganzen Sache und es ist immer mehr als das, was ausgedrückt werden kann. Es ist ein interaktiver Prozess, bei dem die Dinge klarer werden können. Die Sprache ist dabei nur eine Form der Symbolisierung, die meist metaphorischer, poetischer, bildhafter wird.
Hier schließt sich wiederum der Kreis zur Theologie, von der Caputo sagt, dass sie eigentlich nur in der Sprache der Poesie ausgedrückt werden kann. Er nennt das „Etwas“ in Anlehnung an Tillich in seiner Theologie das „Unbedingte“, worüber keine festlegenden Seinsaussagen getroffen werden kann und die Sprache dafür nennt der „Theopoesie“, die eine Antwort auf die „Hermeneutik der Erfahung“ ist. Daher möchte ich mit einem Zitat von Caputo schließen:
Wir beantragen, dass die Sitzung der Abteilung für absolutes Wissen auf unbestimmte Zeit verschoben wird. Anstelle der Anmaßung der Metaphysik setzen wir eine schlichte Poesie, die unterschiedlichen und äußerst vielfältigen Wege, die uns offenstehen, um unserer Erfahrung des Unbedingten Gestalt und Form zu geben, sie in erzählerischer und bildhafter Weise, in Worten und Bildern, markanten Zitaten und dramatischen Szenen darzustellen.
Caputo, 2022, S. 128f.
Literatur:
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Purton, Campbell (2013): Spiritualität, Focusing und die Wahrheit jenseits von Konzepten. In: PERSON, Vol. 17, No.2, S. 122-129.
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Caputo, John D. (2022): Die Torheit Gottes. Eine radikalte Theologie des Unbedingten. Ostfildern: Matthias Grünewald-Verlag.
Foto: Christiane Henkel